Freitag, 14. März 2014

"Golden Cut" Brillantschliff




 Werner Reuling 
Schmuck- und Edelsteingutachter 
geprüft IHK Nordschwarzwald 
Zertifizierter Sachverständiger des BDSH
Bundesverband Deutscher Sachverständiger des Handwerks
Löwengasse 1 
D-63897 Miltenberg 



Überlegungen zum Brillantschliff



In den Jahren 1990 bis 1992 beschäftigte ich mich unter anderem ausgiebig mit der Entwicklungsgeschichte und der Entstehung des Brillantschliffes. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war zunächst eine Idee – eine Vorstellung, von der ich natürlich erst nur gedankliche Bestätigung hatte. Unter dieser Voraussetzung erarbeitete ich Zug um Zug meine Vorstellungen – und kam letztlich zu dem Schluss, dass ich richtig lag.

Die damaligen Notizen und Zeichnungen der Studien heftete ich zu meinen Arbeitsunterlagen. Vor kurzem fielen mir diese Aufzeichnungen zufällig in die Hände und ich studierte etwas in ihnen.

Nach über 22 Jahren war ich von dem außerordentlichen Thema sofort wieder begeistert. Ich überlegte kurz, ob ich meine Begeisterung teilen will, dachte dann, dass nach so langer Zeit sich mit Sicherheit schon ein Anderer dem Thema angenommen und längst veröffentlicht hat.

Die sofortige, umfangreiche Recherche im Internet zeigte zu meiner Verwunderung, dass sich in all den Jahren nichts getan hat – alles noch beim Alten – keinerlei Berichte zu meinen Überlegungen.



Mathematische Berechnung oder Vorgabe der Natur?


Und so fing alles an



Winter 1990, gerade habe ich in der kleinen Werkstatt meinen Holzofen angeschürt. Für den Vormittag nahm ich mir vor, einen Amethyst im Brillantschliff zu schleifen. Bis die Wärme den Raum überschlägt, vertreibe ich mir die Zeit und schaue aus dem Fenster. Eisblumen versperren mir die Sicht und meine Aufmerksamkeit wird auf diese bizarren, wunderschönen Gebilde der Natur gelenkt. Eines dieser perfekten Gebilde faszinierte mich besonders, so klar und deutlich, als wäre es mit Lineal und Zirkel gezeichnet. Und warum auch immer, sah ich an der Fensterscheibe plötzlich etwas ganz anderes. Ich zog mit einem Holzspreißel die Umrisse nach und sah sprachlos auf die Scheibe. Denn was ich da sah, war das Oberteil eines Brillantschliffes.

War vielleicht der Wille eines Schleifers, das Funkeln, die Schönheit und die Vollendung einer Eisblume in einem geschliffenen Edelstein einzufangen und darin festzuhalten, der Ausgangsgrund der Schliffentwicklung? Ist das möglicherweise der Hauptgrund, dass einige hundert Jahre immer wieder an der Verbesserung des Schliffes gearbeitet wurde? Wurden deshalb unzählige Versuche angestellt, einzig und allein mit dem Gedanken, die Schönheit und Vollendung der Natur in den rohen Diamanten perfekt zu übertragen?

Selbstverständlich beruht die stetige Verbesserung des Brillantschliffes auch auf der ständig wachsenden Erkenntnis der Bearbeitungstechniken.

Durch die Erfindung der Diamantsäge (siehe Anhang: Die Entwicklung des Diamantschliffes) im 15. Jahrhundert erweiterte sich die Bearbeitungsmöglichkeit enorm. Was bisher geschliffen werden musste, konnte von jetzt an gesägt werden. Wenngleich auch das Sägen mit einem hohen Zeitaufwand verbunden war, so rechtfertigte sich die „neue Methode“ mit dem geringeren Materialverlust und optimaler Materialnutzung.
                                                


Ist die Natur der Vorreiterdes „modernen Brillantschliffes“?

Mit dem Schleifen wurde es an diesem Tage nichts mehr. Meine Gedanken waren nur noch bei dem Bild an der Fensterscheibe. 
Wenn die Natur diese „Vorgabe“ macht – macht sie dann bezüglich des Brillantschliffes noch andere, wichtige Vorgaben und wenn ja welche?

Unzählige Fragen, die beantwortet werden wollten. Meine Überlegungen endeten bei der Feststellung, dass der bisherige Weg zur Erlangung der idealen Proportionen für den Brillantschliff, in seiner Gesamtheit außer Acht gelassen werden muss. Die sehr aufwendigen, mathematischen Berechnungen aufgrund optischer Vorgänge, wie sie zum Beispiel Marcel Tolkowsky 1919 im Rahmen seiner Promotion, in dem Buch „Diamond Design“ beschrieb, zeigen letztlich ein akzeptables Ergebnis. Um aber eine Lösung aus der Natur zu finden, dürfen diese Ergebnisse in künftige Überlegungen nicht mit einbezogen werden. Sollte sich meine Vermutung bestätigen, wird die Natur die Vorgaben liefern.

Bei all meinen Überlegungen, beim Suchen nach einer natürlichen Vorgabe von Proportionen in der Natur, kam ich letztlich auf die seit Jahrtausenden bekannte „Proportio divina“ (lat. göttliche Anteil) oder „göttliche Proportion“. 

      Abb.: Entwurf Brillant Oberteil, Zeichnung Werner Reuling, 1992



Selbstverständlich sind alle Arbeiten und Bemühungen, die zur Entwicklung des Brillantschliffes beigetragen haben, mit großem Respekt anzusehen. Allerdings ist bei den zahlreichen wissenschaftlichen und mathematischen Berechnungen die Vorgabe der Natur immer außer Acht gelassen worden. Man könnte auch sagen, es ist etwas erfunden bzw. berechnet worden, was die Natur schon lange anwendet.




Der goldene Schnitt                                    
„Proprtio divina – göttliche Proportion“               

Zwei Federstriche also sind die Lösung, die uns die Natur vorgibt. Ein horizontaler und ein vertikaler an bestimmter Stelle.
Das bedeutet, man teilt eine Strecke in zwei Teile, dass der kleinere Teil (Minor) sich zum größeren Teil (Major) so verhält, wie der größere Teil zum Ganzen. Oder anders
ausgedrückt:
Minor : Major = Major : Ganzes



 Das Verhältnis zwischen Minor und Major ist gleich dem zwischen Major und dem Ganzen.

 
Seit Menschengedenken wird die Anwendung des goldenen Schnittes mit Schönheit und Vollkommenheit in Verbindung gebracht. Das Verhältnis der Teile lässt uns die Gegenstände wie zum Beispiel Bauwerke, Gemälde und Pflanzen harmonisch empfinden. So sind die Proportionen des goldenen Schnittes nicht ausschließliches Produkt des menschlichen Schaffens, sie scheinen ursprünglicher Natur zu sein.

 
Mathematisch errechnet ergibt das Verhältnis von Minor : Major und Major : Ganzen die Zahl, als Konstante Phi bezeichnet:
 
1,618033988749894848204586834365638117720309179805762862135.....

Die Zahl besagt, dass zum Beispiel der Major 1,618-fach größer ist als der Minor.
Und das Ganze 1,618-mal größer ist als der Major.

 
Bevor nun diese „neuen Erkenntnisse“ auf die Proportionen des Brillantschliffes angewendet werden, ist es erforderlich, einige Grundprinzipien zu erläutern.
Unter Proportionen versteht man bei facettierten Edelsteinen, einer bestimmten Schliffart, die Höhe des Oberteils, die Höhe des Unterteils, die Stärke der Rundiste und die Tafelgröße, bezogen auf den vorgegebenen mit 100 Prozent anzurechnenden Rundistdurchmesser. Hinzu kommen zwei Winkel. Der Unterteilwinkel – er wird durch die Höhe des Unterteils bestimmt – und der Oberteilwinkel. Der Oberteilwinkel ist abhängig von der Größe der Tafel und der Höhe des Oberteils.
Die Einstufung der Wertigkeit der Proportionen findet in den Richtlinien des IDC (International Diamond Council) und  der CIBJO - International Confederation of Jewellery, Silberware, Diamonds, Pearls and Stones (Internationale Vereinigung Schmuck, Silberwaren, Diamanten, Perlen und Edelsteinen) ihre Anwendung.


Umlegung der Verhältnisse des „goldenen Schnittes“
auf einen Brillantschliff

 

  Graphische Darstellung der Brillantproportionen im goldenen Schnitt. Entwurf Werner Reuling, 1992.
Links u. Mitte: die Proportionen im goldenen Schnitt. Rechts: „Feinschliff der Praxis“.



Es gilt nun festzustellen:

  1. Welche Proportionen bei Anwendung der Verhältnisse des goldenen Schnittes, sich bei einem Brillantschliff ergeben.
  2. Gegenüberstellung mit den aktuellen Proportions-Bewertungsvorgaben.
  3. Wertigkeit der Proportionen nach dem goldenen Schnitt, in Anlehnung nach dem Vorschlag des IDC für Standardbrillanten, Mai 1979.
Bei der nun folgenden Anwendung ist lediglich eine Vorgabe gegeben. Die Vorgabe ergibt sich praxisnah daraus, den maximalen Durchmesser eines möglichen Brillantschliffes aus einem vorliegenden Rohdiamanten unter Berücksichtigung der bestmöglichen Reinheit. 
Ausgangsmaß ist also der maximale Rundistdurchmesser, dieser entspricht somit dem Ganzen, und einem Beispiel-Durchmesser von 6,00 mm:

6,00 mm        Ganzes                                     Durchmesser                    = 100,0 %
3,70 mm        Major vom Ganzen                     Höhe                                =   61,6 %

       Aufteilung der Höhe von 3,70 mm
1,42 mm       Minor v. Ganzen/3,70 mm           Oberteilhöhe*                   =   23,6 %
2,28 mm       Major v. Ganzen/3,70 mm           Unterteilhöhe*                  =   38,0 %

3,70 mm       Major v. Ganzen/6,00 mm          Tafel**                             =   61,6 %
                             
                    Zeichnerisch ermittelt                  Oberteilwinkel                   =   35,0 °
                    Zeichnerisch ermittelt                  Unterteilwinkel                  =   40,0 °


* Die Aufteilung der Höhe in Unter- u. Oberteil ist ohne Einbeziehung der Rundiste. ** Berechnet sich die Tafel nach dem Verhältnis: Durchmesser/Major plus Höhe/Minor wäre das Ganze 9,70 mm, entsprechend  der Minor wieder 3,70 mm. Berechnet sich die Tafel nach dem Verhältnis Durchmesser ist Ganzes und Tafel ist Major, wäre entsprechend dem Major, also 3,70 mm. 
 
Gegenüberstellung mit den aktuellen Proportions-Bewertungsvorgaben.

Rundistdurchmesser
Ideal Cut
Feinschliff d. Praxis
"Golden Cut"
          = 100 %
Tolkowsky
Eppler
goldener Schnitt




Tafelgröße
53,0 %
56,0 %
61,6 %




Gesamthöhe
59,3 %
57,6 %
61,6 %




Oberteilhöhe
16,2 %
14,4 %
23,6 %




Unterteilhöhe
43,1 %
43,2 %
38,0 %




Oberteilwinkel
34,5 °
33,2 °
35,0 °
Unterteilwinkel
40,7 °
40,8 °
40,0 °
 
Zuordnung der Prädikate "sehr gut - gering" zu den Proportionen des Brillantschliffes.
In Anlehnung an den Vorschlag des IDC, Mai 1979, für Standard-Brillanten.







Proportionen
mittel - gering
gut
sehr gut
gut
mittel - gering






Tafelgröße
< 53 %
53 - 55 %
56 - 66 %
67 - 70 %
> 70 %






Oberteilhöhe
<   9 %
  9 - 10 %
11 - 15 %
16 - 17 %
> 17 %






Unterteilhöhe
< 39 %
39 - 41 %
42 - 45 %
46 - 47 %
> 47 %






  Oberteilwinkel
< 27 °
27 - 30 °
31 - 37 °
38 - 40 °
> 40 °
  Unterteilwinkel
< 38 °
38 - 39 °
40 - 42 °
43 - 44 °
> 44 °

  
Der „Golden Cut“ oder Feinschliff der Natur

Ergebnis

Wie die obenstehenden Tabellen verdeutlichen, entsprechen die Proportionen des goldenen Schnittes, ausgenommen die der Ober- und Unterteilhöhe, der Zuordnung der Prädikate „sehr gut“.
Zu den Differenzen in der Ober- und Unterteilhöhe ist zu beachten, dass diese zwei Werte im „mittel – gering“ Bereich liegen. Diese zwei „unstimmigen“ Werte entstehen durch den hohen Wert der Oberteilhöhe und haben den niedrigen Wert der Unterteilhöhe zur Folge. Wogegen die Gesamthöhe wieder mit „sehr gut“ einzuordnen ist.
Die Beurteilungen der Proportionen sind somit (vier Werte – inkl. Gesamthöhe – á 1 Punkt und zwei Werte á 3 Punkte) im Durchschnitt 1,6 – dementsprechend mit Proportionen „gut“ zu bewerten.

Zusammenfassung

Es ist sicher, dass die von mir gewählte Bezeichnung „Golden Cut“ eine nachvollziehbare Berechtigung aufweist. Fast unglaublich, dass das Ergebnis mit einer relativ einfachen Methode zustande kam.
 
 
Die Entwicklung des Diamantschliffes

Ein kurzer Überblick

13. Jahrhundert, erste Polierversuche in Europa an natürlichen Flächen von Diamantkristallen. Erstes Auftreten des Spitzsteins und Glättung der Kristallflächen unvollkommener Oktaeder, um perfekte Spitzsteine zu erhalten.

14. Jahrhundert, Weiterentwicklung vom Spitzstein zum Dickstein, auch Tafelstein genannt. 

15. Jahrhundert, durch die Entwicklung der Diamantsäge ist es möglich, die relativ zufälligen Ergebnisse bei den Spaltungsvorgängen, durch punktgenaueres Schneiden besser beherrschen zu können. Als Säge diente ein geölter Draht, der mit Diamantstaub beschichtet wurde. Mit diesem Werkzeug konnten, wenn auch sehr mühselig und zeitaufwendig, Diamantrohlinge ohne größeren Materialverlust bearbeitet werden. Jetzt waren aufwendigere Bearbeitungen mit einer ständig wachsenden Zahl von Facetten möglich.
Siehe auch: Lodewijk van Berquem, Brügge u. Johannis de Laet, Niederlande, 1647.

16. Jahrhundert, entwickelte sich aus dem Dick- oder Tafelstein das sogenannte „Einfache Gut“. Beim „Einfachen Gut“ wurden zusätzlich vier Flächen auf die entsprechenden Kanten im Unter- und Oberteil angebracht.

1568, der berühmte florentinische Künstler Benvenuto Cellini (1500-1571), Bildhauer und Goldschmied der Renaissance, beschreibt in seinem 1568 veröffentlichten Werk „I trattati dell'oreficeria e della scultura" („Traktate über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei“) detailliert die wichtigen Schritte der formgebenden Bearbeitung des Diamantschleifens.
Diese vier Bearbeitungsschritte, monopolisierten für die nächsten drei Jahrhunderte den Standard in Europa und bilden noch heute die Grundlage.
Die vier Bearbeitungsschritte sind: Spalten des Rohdiamanten. Reiben der entstandenen Teile. Schleifen und Polieren der Facetten.

17. Jahrhundert, Jules Mazarin
Der Mazarin-Schliff ist ein Altschliff-Diamant und wird auch als „Zweifaches Gut“ bezeichnet. Entstanden und benannt durch Anregung des Jules Mazarin, 1602-1681, französischer Diplomat und Kardinal. Von 1642 bis 1661 regierender Minister von Frankreich (Ludwig XIII. und Ludwig XIV).
34 Facetten, bestehend aus: Oberteil 16 Facetten plus Tafel, und Unterteil 16 Facetten plus abgeflachter Spitze.

18. Jahrhundert, Vincenzo Peruzzi
Der Peruzzi-Schliff ist ein Altschliff-Diamant und wird auch „Dreifaches Gut“ oder Barockschliff genannt. Um 1740 erfand der italienische Diamantschleifer Vincenzio Peruzzi den "Altschliff" und man würdigte seine Arbeit mit seinem Namen. Sichtbar gerundetes Quadrat, Oberteil 32 Facetten plus Tafel und das Unterteil 24 Facetten plus abgeflachter Spitze.

19. Jahrhundert, Henry D. Morse
Einen Meilenstein in der Entwicklung und der Verbesserung des Brillantschliffes setzte 1861 der Diamantschneider Henry D. Morse. Morse, der 1861 die erste Diamantschleiferei in Amerika gründete, war überzeugt, dass die kürzlich begonnene Ausbeute der südafrikanischen Diamantfelder auch seiner Schleiferei Vorteile bringen würde.
Morse schaffte einige revolutionäre Neuerungen, zum Beispiel das Schleifen von großen Diamanten, die fortan die „alten Techniken“ – große Steine wurden bislang zu mehreren kleineren Steinen aufgeteilt – veränderten.

20. Jahrhundert, Marcel Tolkowsky
1919 dokumentierte der belgische Mathematiker und Diamantschleifer Marcel Tolkowsky wesentliche Winkel und Proportionssätze in seiner Dissertation, „Diamant design a study of the reflection and refraction of light in a diamond“. Die Winkel der Krone (Oberteil) und des Pavillons (Unterteil) wurden später die Grundlagen der Schnittgrade des amerikanischen Systems und vom GIA als „Ideal Cut Proportionen“ bezeichnet und gelehrt (siehe Tabelle Seite 5).

1939, W. F. Eppler ermittelt nach umfangreichen Berechnungen und Proportionsmessungen den „Feinschliff der Praxis“ oder „praktischer Feinschliff“ (siehe Tabelle Seite 5).



                                          Werner Reuling                                          

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